Das abendländische Denken geht davon aus, dass ihre Logik die universelle Regel für menschliches Denken sei. Die aristotelische Logik beispielsweise basiert ganz offensichtlich auf der griechischen Grammatik, die keinerlei gravierenden Unterschiede der grammatischen Formen zu den anderen indogermanischen Sprachen hat, in denen sich entsprechende Regeln für Schlüsse und ihrer aristotelischen Logik finden lassen.
Wird nun die westliche Logik, die eindeutig auf der Struktur des westlichen Sprachsystems beruht, auf das chinesische Denken angewandt wird sehr schnell klar, dass es unpassend ist. Der universelle Anspruch dieses abendländischen Denkens wird somit zumindest in Frage gestellt, wenn nicht sogar wiederlegt.
Denn das Chinesische Denken ging in eine völlig andere Richtung, verwendet andere Strukturen, andere Prinzipien und eine andere Logik. Durch die Räumliche Distanz die bis in jüngere Zeit weder Austausch noch gegenseitige Beeinflussung zwischen China und Europa zuließ, stehen sich heute zwei Denksysteme gegenüber, denen es fast unmöglich ist Zugang zum jeweilig anderen zu finden.
Die Andersartigkeit der chinesischen Kultur
Der Sinologe M. Kubny schrieb hierzu:
...dass die Chinesische Kultur erscheint einerseits für den westlichen Menschen als ein vollständig anderer Kosmos menschlicher Zivilisation erscheint, andererseits in vielen Belangen wiederum nicht so anders sein kann - schließlich handelt auch die chinesische Kultur von Menschen und ist Menschenwerk. So ist zum Beispiel das in Techniken wie dem FENG SHUI stark ausgeprägte Anliegen, größtmöglichen materiellen Wohlstand zu schaffen, keine typisch chinesische Eigenschaft, sondern dieses Bestreben kommt auch in westlichen Gesellschaften vor; es ist Ausdruck menschlicher Gesellschaft schlechthin. Dasselbe gilt ebenso wie der Wunsch, gesund bleiben zu wollen, einen möglichst passenden Partner zu finden, verstanden zu werden, beruflich erfolgreich zu sein und schließlich als gesunder Mensch so alt wie möglich zu werden ...
Lediglich die Lösungen, wie Wege zur Realisierung dieser menschichen Grundbedürfnisse gefunden werden können, sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich, was fremde Kulturen schießlich auch so spannend macht. Von Einblicken in die Techniken der chinesischen Kultur erhofft sich der westliche Mensch in der Regel die Aufdeckung unerhörter Geheimnisse, mit Hilfe derer man sich viele Vorteile verschaffen könne. Der Westen pflegt ein stark idealisiertes Bild von China, was hierzulande Entwicklungen zulässt, die man nur als Wildwuchs bezeichnen kann. Die Einführung einer traditionellen chinesischen Technik bewegt sich zwischen hohen Erwartungen des westlich Publikums und einer hohen Hürde der Kulturellen Andersartigkeit Chinas, so dass sich Wunschdenken und Mystizismus gegenseitig stimulieren.
Eigenheiten der Sprache
Als isolierende Sprache folgt das Chinesische einer vagen Subjekt-Prädikat-Objekt-Struktur, die aber nicht zwingend ein Subjekt bedarf und oft ohne ihm auskommt. Sie kennt keine Konjugation und Deklination oder sonst einer Veränderung irgendeines Wortes im Satz, um damit einen bestimmten Sinnzusammenhang auszudrücken. Das Verb bleibt immer gleich. Will man etwas Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges ausdrücken geschieht dies allein durch die Einführung von Wörtern wie „gestern“, „jetzt“ oder „später“. Dadurch ist es relativ einfach innerhalb kurzer Zeit ein alltagstaugliches chinesisch zu erlernen. Diese Einfachheit stellt aber auch ein Problem dar, denn es ist mit einer so einfachen Sprachstruktur sehr umständlich, sich differenziert auszudrücken, und verlangt an diesem Punkt eine vollständige Unterordnung unter ihre kulturelle Hegemonie. In Bezug auf die traditionellen chinesischen Wissenschaften bedeutet dies, dass nur derjenige sich dem Verständnis einer solchen Wissenschaft annähern kann, der bereit ist, sich das gesamte Weltbild und das soziokulturelle Gefüge Chinas anzueignen.
Sehr auffällig an der Chinesischen Sprache ist das Fehlen des Verbes „sein“, das dem Deutschen oder auch Englischen Ausdruck entspricht. Doch geht im chinesischen nichts ab, im Gegenteil, warum sollte das „Sein“ immer erwähnt werden. Mit dem Wort „Sein“ ist immer eine Existenz verbunden und über diese Existenz (und Existenzdenkens) eine Fokussierung auf die Identität und Förderung eines Identitätsdenkens.
Ein logisches Denken, das auf der Identität beruht wie im Westen, muss zweigeteilt sein wie z.B. „A“ und „Nicht-A“ „chinesisch“ und „Nicht-chinesisch“. Fälle wie „A und B“ sind nicht zweigeteilt, da es noch ein „C“ geben kann. Deshalb braucht man bei der Klassifizierung die Regel der Ausschließlichkeit.
Das chinesische Denken legt aber keinen Nachdruck auf Ausschließlichkeit, sondern betont vielmehr die Beziehungsqualität z.B. zwischen oben und unten, A und B. Alle diese Bezugspunkte werden als voneinander abhängig angesehen.
Bei einem Satz wie „Etwas und nichts erzeugen sich gegenseitig; das Schwierige und das Leichte ergänzen sich gegenseitig; das Lange und das Kurze sind wechselseitig aufeinander bezogen; das Vorne und das Hinten begleiten sich wechselseitig“ begegnet uns eine Logik ganz anderer Art. Sie betont die Bedeutung der Beziehung von etwas und nichts, zwischen oben und unten. Die Beziehung der Gegensätze sind der Ausgangspunkt, und nicht das Gesetz der Identität. Es geht um die Spannungsfelder die entstehen und nicht um die einzelnen Elemente.
Mit dem “Sein“ und dem damit zusammenhängenden Existenz- und Identitätsdenken geht auch der Begriff der Materie einher, auf dem das Westliche Denken ebenso begründet ist. Es wird ein Substrat benötigt, und als Endergebnis dieser Denkrichtung lässt die Vorstellung einer „reinen Materie“ aufkommen. Für die westliche Philosophie ist es charakteristisch, einer Sache auf den Grund zu gehen. Etwas in seine Bestandteile zu zerlegen um die elementaren Bausteine zu ergründen.
Dagegen liegt das Charakteristikum des chinesischen Denkens in der ausschließlichen Aufmerksamkeit für die sich gegenseitig bedingenden Implikationen verschiedener Zeichen wie z.B. Yin und Yang, Evolution und Involution. Eine Vorstellung von Materie im westlichen Verständnis ist im chinesischen nicht vorhanden, und Worte, die die Funktion haben, Subjekt und Objekt anzugeben (z.B.: „Körper“, „Funktion“, „wissend“, „bekannt“), stammen aus Übersetzungen buddhistischer Schriften. Eine Substanz, oder einzelne Bestandteile/Elemente, die den Dingen zugrunde liegen sind nicht von Interesse.
Man könnte auch sagen, dass das Chinesische stärker das „Werden“ als das „Sein“ betont, das dem „Sein“ gegenübersteht. Es ist noch nicht, sondern ist im Werden begriffen.
Der auf dem Gesetz der Identität beruhende Syllogismus (Vernunftschluss) ist die Form der Folgerung in der westlichen Logik, während die CHINESEN die Analogie anstelle der Folgerung verwenden. Ein Beispiel aus MENCIUS beschreibt die Sache genauer, zum Beispiel:
"Die menschliche Natur ist gut, so wie das Wassers nach unten strebt"
Herausforderungen in der Schriftlichen Überlieferung
Neben der Sprache ist wohl die Schrift eine der Auffälligsten Unterschiede der chinesischen Kultur, die über unzählige schriftliche Hinterlassenschaften verfügt, die ihren Anfang höchstwahrscheinlich zwischen 2000 und 1000 v.Chr. genommen haben.
Als Besonderheit sei erwähnt, dass sich die Felder des Lesens und Sprechens der chinesischen Sprache voneinander abgrenzen lassen, ohne in Konflikt zu geraten. Es ist möglich chinesisch Lesen zu können, ohne auch nur ein chinesisches Wort sprechen zu können. Möglich ist das, über eine vollkommene „Reduzierung“ der Grammatik. Die chinesischen Sprachen unterscheiden sich untereinander wie Französisch, Russisch und Deutsch. Wollte man für diese Sprachen eine gemeinsame Schriftsprache entwickeln ginge es nur über das Finden eines gemeinsamen grammatikalischen Nenners. Ob nun die chinesische Schrift dafür gesorgt hat, dass sich die chinesische Grammatik immer mehr vereinfachte, oder ob die Bildung einer Komplexeren Grammatik dadurch verhindert wurde sei dahingestellt.
Chinesen und einige dankbare Westler neigen dazu, den kulturellen Ursprung Chinas weit früher anzunehmen, als es die wissenschaftlichen Erkenntnisse nahelegen. Die ältesten Schriften, die sogenannten Orakelknochen, stammen aus der Yin-Dynastie (1766-1122 v.Chr.) und sind in Schildkrötenpanzer eingeritzte Symbole und Zeichen. Aus der Zhou-Dynastie (1027-256 v.Chr.) kennt man bronzene Sakralgefäße, die mit ausführlichen Inschriften versehen wurden. Daneben existieren zahlreiche weitere Schriftvarianten der chinesischen Zeichen. Erst allmählich wurden Schriften auf Seide, Reispapier oder auf Bambusplättchen verfasst. Nach der Bücherverbrennung im Jahr 213 v.Chr. durch Qin ShiHuangdi, wuchs die Literatur beständig an und wurde über Jahrhunderte kopiert, verbessert, erneuert und gesammelt. Daher sind die schriftlichen Quellen der chinesischen Kultur die authentischen Zeugnisse ihrer Techniken und wissenschaftlich Vorstellungen, so wie sie im Lauf der Jahrhunderte entstanden sind.
Es ist daher ersichtlich, dass sich die chinesische Sprache, und damit auch die Sprache der chinesischen Philosophien über 2000 Jahre hinweg entwickelt hat. Das Alte „klassische Chinesisch“ bedient sich sehr karger verbaler Strukturen, die gleichzeitig vage und voller Bedeutung sind. Es ist nicht nur sehr Differenziert und umfangreich, sondern auch kompliziert und schwer verständlich. Es war möglich, eine große Menge an Informationen in einzelne Wörter und kurze Wendungen zu packen. Alte Formulierungen transportieren einerseits Informationen und Wissen und dienen der Kommunikation, andererseits sind sie aber auch mnemotechnische Kunstgriffe, die darüber hinaus auf den weiteren Rahmen verweisen, in dem dieses Wissen verankert ist.
Manchmal kann das alte Chinesisch auch ungeheuer Expressiv und sehr poetisch sein. Termini und Texte hängen unmittelbar mit dem Reichtum und der Tiefe des Materials sowie mit der Dichte des Sinngewebes zusammen, das diese Begriffe trägt und nährt. Dies führt zu dem Problem die Vieldeutigkeit der Begriffe zu bewältigen, zumal alte chinesische Worte oft dazu tendieren alle Bedeutungen zu verkörpern und wiederzugeben, wodurch eine vollständige Übermittlung der Bedeutung schwierig wird.
In der geschriebenen Sprache entwickelte sich die Symbolisierung von Wahrgenommenen und Gedachtem im Westlichen und im Chinesischen auf völlig unterschiedliche Weise. Im Abendland handelt es sich um eine Art Notation, um ein System von Symbolen, die Laute repräsentieren. Selbst wenn wir etwas still lesen, ist die Lautassoziation immer präsent, und der gelesene Satz entwickelt und entfaltet sich wie eine Notenzeile: Er ist seiner Form nach zeitlich und linear. Im chinesischen hingegen beginnt mit abstrakten Bildern von Gedanken/Dingen/Handlungen. Die chinesischen Zeichen und Worte neigen dazu die Beziehungen zwischen den Dingen zu betonen, wobei die abstrakten Symbole diese Beziehung deutlich machen. Diese Methode aus piktografischen und ideografischen Elementen, die in einer bestimmten Weise angeordnet sind ist eine bildliche. Das Chinesische ist der Form nach Räumlich, eine visuelle Sprache, die sich eher wie ein Gemälde und weniger wie ein Musikstück entfaltet, auch wenn die Musikalität der Sprache unverkennbar ist.
Für den Abendländer ergibt sich daraus eine Paradoxie, die sich nur schwer auflösen lässt. Anstatt nur einer Bedeutung werden meist mehrere Bedeutungen als gültig betrachtet, mit einer Tendenz die daraus entstehenden Bedeutungsstränge miteinander zu verweben, wodurch sich ein dichtes und komplexes Bedeutungsgeflecht ergibt. Das hat jedoch nichts damit zu tun, was im Deutschen als Kontext bezeichnet werden würde, indem ein Wort zwar mehrere Bedeutungen haben kann, jedoch in einem bestimmten Kontext eine eindeutige Bedeutung hat. Die chinesischen Zeichen sind sehr abstrakte Ideenbilder, die in einer dynamischen Beziehung zueinander stehen in der alle Bedeutungen präsent sind, mitschwingen, in Bewegung sind und mit dem Menschlichen Geist interagieren. Dieses Bedeutungsgeflecht zu entwirren und die einzelnen Stränge zu isolieren kann äußerst schwierig, in Einzelfällen sogar unmöglich sein.
Ein paar klassische chinesische Texte treiben das ganze sogar auf die Spitze. Die Interpunktion ist erst eine sehr neue, durch den Kontakt mit dem Westen entstandene, Erscheinung. Zunächst muss die Richtung herausgefunden werden in die der Text geschrieben wurde. Von rechts nach links, von links nach rechts, von oben nach unten, von unten nach oben oder ändert sich nach jeder Zeile/Spalte die Richtung. Bei einigen Meisterwerken ergibt der Text vorwärts wie rückwärts gelesen einen Sinn. Vielleicht sogar einen Gegenteiligen, sodass unklar bleibt, welcher der „richtige“ ist. „Beide“ Texte die ja nur einer sind treten hier zusätzlich in Dialog miteinander und beginnen miteinander zu interagieren. Das westliche Denken stellt hier die Frage nach der Wahrheit und begibt sich auf deren Suche. Jedoch ist das Chinesische mehr an der Ordnung interessiert und sucht diese.
Diese Eigentümlichkeit wird vor allem für ein auf der aristotelischen Logik basierendes Denken zum Problem. Auf die Frage, ob z.b. „x“ nun „a“, „b“ oder „c“ ist, ist es durchaus normal als Antwort ein klares und sicheres „ja“ zu erhalten. Der Geist taucht ein in ein Bildermeer aus Beziehungen ohne der Betonung auf Ausschließlichkeit, Identität, Existenz, Materie/Substanz, elementaren Teilen, Vernunftschluss, … was für Qualitäten entstehen zwischen den einzelnen Teilen … man stelle sich einen chinesischen Lautenspieler vor, der in langen Abständen einzelne töne spielt. Doch geht es dabei nicht um die Töne, sondern um das was sich zwischen den Tönen bildet, um diese vermeintliche Leere, die alles andere als leer ist.
Auf die Frage, ob nun Gott einen Stein erschaffen könne, den er selbst nicht mehr heben kann würde man wohl auch nur eine unbefriedigende Antwort erhalten. Obwohl diese Frage auch nach westlichem Denken dumm ist. Es wird ein allmächtiger, unendlicher Gott postuliert, der jedoch dem Logiksystem untergeordnet wird. Also doch nicht unendlich und allmächtig, da durch das verwendete Logiksystem begrenzt. Also eine an sich schon falsche Fragestellung und in sich unlogisch, die höchstens dazu nützlich ist die Grenze der gerade verwendeten Logik aufzuzeigen. In der chinesischen Philosophie wäre die Antwort die gleiche, wie auf die Frage ob ein Hund Buddhanatur hat oder nicht, die im entsprechenden Koan mit wú 無/ む (jap. Mu 無 / む) beantwortet wird. Wú 無 heißt übersetzt soviel wie „nicht, Nichts/Leere, ohne, nicht existieren, jemand/etwas gibt es nicht, nicht vorhanden sein“. Alle Bedeutungsfelder schwingen bei der Antwort gleichermaßen mit. Allgemein bedeutet diese Antwort soviel, dass die Frage nicht sinnvoll zu beantworten sei, da sie einem dualistischen Geist entspringt und somit keinen Sinn ergibt. Die Frage ist an sich schon völlig falsch und mit dem wú 無/ む (jap. Mu 無 / む) wird deren Gültigkeit geleugnet und ist ein Aufruf über die perspektivische Begrenzung der Konzeptualisierung hinaus zu gehen.
Das Zeichen 安 ān setzt sich zusammen aus dem Radikal 宀 zì (Dach, Abdeckung) und dem Radikal 女 nǚ (Frau, weiblich, Mädchen, Tochter). Das Zeichen 安 ān illustriert daher die Beziehung zwischen dem Dach eines Hauses und einer Frau in dem Haus und bedeutet so viel wie „friedlich, gesund/heil, stabil, ruhig“. Es wird oft dazu verwendet, andere Begriffe zu bilden, wie z.B. 安全 ānquán. 安 ān (friedlich, gesund/heil, stabil/stabilisieren, ruhig/beruhigen), in dem die Einzelteile wie 宀 zì (Dach, Abdeckung) und 女 nǚ (Frau, weiblich, Mädchen, Tochter), die weiterhin mitschwingen, nachhallen und präsent sind, wird in Beziehung zu 全 quán (ganz, komplett, vollständig, gesamt) gesetzt. 安全 ānquán bedeutet so viel wie „Sicherheit, Sicherung, sicher, heil“.
In der Sprachwissenschaft wird klassischerweise davon ausgegangen, dass sich der Inhalt der einen Sprache in eine andere Sprache übersetzten lässt. Mit Blick auf die Texte der chinesischen Wissenschaften wird dies durch die enormen Übersetzungsprobleme der beispielsweise philosophischen, medizinischen, oder auch Texte aus den Traditionellen Kampfkünsten, in Frage gestellt. Am deutlichsten wird dies bei fundamentalen Begriffen wie zum Beispiel 氣 qì oder 道] dào, die ein derartiges Wissenskonzentrat repräsentieren, dass ihr Mikrokosmos makrokosmische Dimensionen annimmt. Diese Schwierigkeiten werden vor allem dann greifbar, wenn man über ein genaues Verständnis verfügt.
Da sich das Chinesische räumlich, und nicht wie die abendländischen Sprachen linear bzw. zeitlich entfaltet, entwickelt es eine Mehrdimensionalität. Die Zeichen beginnen über die Zeilen und Spalten hinweg zu interagieren. Es bilden sich Sinn- und Bedeutungscluster die mit einer Vielzahl an Bedeutungen angereichert sind die ständig und gleichzeitig präsent sind, mitschwingen und mehrere Ebenen des Zugangs eröffnen. Sie erscheinen daher als Ansammlung dichter, konziser Ausdrücke, die wie belanglose Aphorismen wirken. Doch sind dort vielschichtige Bedeutungs- und Weisheitslandschaften verborgen, deren Erforschung Jahre, gar Jahrzehnte geduldigen Studiums erfordern, bis sie wirklich durchdrungen und verstanden werden können. Vor allem von dieser Vieldimensionalität geht bei Übersetzungen viel verloren.
Das Anreichern einzelner Begriffe mit teils wiedersprechender Bedeutung und Information hat aber noch weitreichendere Bedeutung. Während in den Westlichen Wissenschaften eine Theorie von einer anderen abgelöst wird und als veraltet ad acta gelegt wird existieren in China verschiedene konkurrierende Gedankensysteme unterschiedlicher Konzepte über eine lange Zeit hinweg nebeneinander ohne an Gültigkeit zu verlieren. Denn im Abendland sorgt der Absolutheitsanspruch dafür, dass sie sich gegenseitig verdrängen und in immer schnellerer Abfolge alte durch neue Wissensinhalte ersetzt werden. In China wurden keine Ideen oder Anschauungen durch Neuerungen verworfen, sondern durch die Erneuerung als eigenständige Technik und Konzept ergänzt. Sie schlossen sich nicht aus, sondern existierten nebeneinander fort.
In einem derart alten Begriff wie beispielweise dem 氣 qì begegnet uns ein Konzept, das verschiedene Teilkonzepte, die sich durchaus wiedersprechen und teilweise gar nichts miteinander zu haben können, subsummiert. Doch werden sie durch die Universalität des Qi-Begriffs geeint. Der Sinologe Paul Ulrich Unschuld spricht in diesem Zusammenhang von einem „Rasterwissen“, das sich kontextbedingt über verschiedene Aspekte des Lebens legt, auch wenn sich diese als Raster untereinander widersprechen. Doch welche Bedeutung ist nun die wahre? Die Wahrheitsfindung die in der abendländischen Philosophie eine wichtige Rolle spielt, ist in der chinesischen Weltanschauung von geringerer Bedeutung. Bedeutung hat hier die Ordnung. Weshalb seinerzeit der Neokonfuzianismus verworfen wurde, als die Fremdherrschaft der Qing-Dynastie begann. Sein Wahrheitsgehalt war unwichtig, das Praktische Leben hat gezeigt, dass er die Ordnung in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft nicht aufrechterhalten konnte. Paul U. Unschuld schreibt hierzu: „Vor allem Partikular-Erklärungsmodelle sind wie Raster, die über die erkennbare oder denkbare Wirklichkeit gelegt werden, einen bestimmten Ausschnitt dieser Wirklichkeit ordnen und erklären und mit Hilfe dieser Ordnung und Erklärung ganz bestimmte Möglichkeiten eröffnen, Wirklichkeiten zu beeinflussen, bestimmte Probleme zu lösen oder noch spezifischer: bestimmte Krankheiten zu behandeln. Dabei ist es unerheblich, dass die Logik eines Rasters, eines Partikular-Erklärungsmodells, der Logik eines andern Rasters wiederspricht, mit dessen Hilfe ein anderer Ausschnitt aus der Realität geordnet, erklärt und damit beeinflussbar wird.“
Zuletzt sei noch erwähnt, daß das „Gefühl“ in der Sprache wichtig ist, da sonst die Bedeutung der Worte stark eingeschränkt würde. Die Stimmung die ein Satz oder Wort erzeugt ist wichtiger als das Tempus (Zeit) in unserer Sprache.
All dies führt interessanterweise dazu, dass das chinesische Denken weniger Probleme mit neueren Theorien der Physik hat, als das westliche, das immer noch mit dem Wiederspruch hadert, ob das Licht nun Welle oder Teilchen sei oder nicht. Aus chinesisch philosophischer Sicht würde man wohl mit einem wú 無/ む (jap. Mu 無 / む) antworten.